Verhaltensvergleiche zwischen Tier- und Unternehmenswelt


Inhalt:

  1. Perspektive: Unternehmenstypen
  2. Perspektive: Unternehmensumfeld
  3. Perspektive: Unternehmenskultur
  4. Perspektive: Personalauswahl
  5. Perspektive: Personalentwickung
  6. Fazit


Das menschliche Verhalten in Organisationen ist vielfach vergleichbar mit tierischen Handlungseisen in der Gefangenschaft bzw. freien Natur.


Die nachfolgenden Gedanken und Erkenntnisse wurden unter Mitwirkung von Dr. Herbert Einsiedler entwickelt. Die Abhandlung zeigt unter verschiedenen Perspektiven Analogien auf, zwischen Verhaltensweisen aus der Tierwelt und entsprechenden Aktivitäten aus der Unternehmensrealität.

1. Perspektive: Unternehmenstypen

Wer kennt sie nicht, diese Organisationen? Wie bei Wühlmäusen ist das Terrain der einzelnen Mitarbeiter exakt abgegrenzt. Der Blick nach außen wird gar nicht erst gewagt. Die Dicke der Erdschicht zwischen der Oberflächenrealität und dem eigenen Standort wächst von Tag zu Tag. Die Wühlmäuse in diesen Unternehmen halten sich für sehr erfolgreich. Konflikte sind selten. Quertreiber verlassen bald die Organisation oder werden erst gar nicht eingestellt. Die rechtzeitige Wahrnehmung von Neuem scheitert oftmals am dicken Fell. Ändern sich die Umweltbedingungen der Unter­nehmung, reagieren die Mitglieder dieser Organisation wie Lemminge. Sie folgen aufgrund der fehlenden Außensicht unkritisch ihrem Leithammel – nicht selten der Einäugige unter Blinden – auf Gedeih und Verderb, auch wenn es gemeinsam in den Abgrund geht.


Es gibt jedoch auch andere Unternehmenstypen. Mitunter sagen Außenstehende: „Da geht es zu wie im Affenstall.“ Es herrscht betriebsame Hektik. Von Einigkeit ist überhaupt nichts zu merken. Irgendwelche Meinungsverschiedenheiten werden permanent ausgetragen. Die Sinnesorgane dieser Organisationen sind jedoch auf Außenreize empfindlich wie bei einem Delphin. Tut sich irgendetwas, wird es bald in ihre Sensoren geraten. Die Arbeitsweise dieser Unternehmen kann mit der eines Wolfsrudels verglichen werden. Die einzelnen Wölfe durchstreifen ihr Gebiet. Sichtet einer von ihnen Beute, heult er laut und holt seine Kollegen zu Hilfe. Eine solche Wolfsrudel-Taktik, in der Vergangenheit auch schon erfolgreich in der Seekriegs­führung angewandt, wird immer dann erfolgreich sein, wenn es darum geht, rasch Beute zu machen.


Diese beiden Organisationsformen – hier mit der Tierwelt verglichen – stellen zwei beispielhafte Extreme dar. Dennoch kann man sie oft in der Realität beobachten. Mitunter werden auch in einem Unternehmen in unterschiedlichen Abteilungen – je nach Stallgeruch – beide Formen anzutreffen sein, was zu Revierkämpfen zwischen den betreffenden Bereichen führen kann. Den einen oder anderen Effekt pauschal als gut oder schlecht zu bezeichnen – dies kann man sicherlich nicht. Es kommt darauf an, in welcher Umwelt sich ein Unternehmen bewegt.

2. Perspektive: Unternehmensumfeld

Arbeitet ein Unternehmen in einer Umwelt mit wenigen oder lang vorhersehbaren Change-Prozessen, ist es sicherlich günstig, in Form von Wühlmäusen oder Lemmingen vorzugehen. Die Anpassungsfähigkeit der Organisation nach außen wird kaum gefordert. Der Reibungsverlust ist gering. Für manche organisatorische Regelung ist – überspitzt gesagt – der Letzte, der wusste, warum man es so machen soll, bereits in Pension gegangen. Dennoch läuft alles reibungslos weiter. Die Mitarbeiter leben stumm wie Fische und stur wie Ochsen in der Vergangenheit.


Wehe aber, diese Unternehmung gerät in etwas turbulenteres Fahrwasser. Changevorhaben scheitern nicht nur daran, dass die organisatorischen Regelungen nicht flexibel genug ausgelegt sind. Die Zusammensetzung der Mitarbeiter dieser Organisation - sei es durch eine einheitliche Einstellungspolitik oder eine forcierte Anpassung von neuen Mitarbeitern – ist derart starr auf die bestehenden Verhält­nisse ausgerichtet, dass die Mitarbeiter bei Einstellungs- und Verhaltensänderungen erhebliche Widerstände zu überwinden haben. Die ohnehin wenigen kritikfähigen und risikofreudigen bzw. ideenreichen Arbeitnehmer neigen in diesen Organisationen – besonders wenn sie nicht in den Change-Prozess einbezogen werden – nach einer Phase des Auflehnens zur „inneren Kündigung“, oder sie sehen sich auf dem externen Arbeitsmarkt um. Welche Konsequenzen können damit verbunden sein?


Die besten bzw. die jüngsten Mitarbeiter (inkl. Führungskräfte) gehen zuerst. Die schlechtesten bzw. die älteren Arbeitnehmer bleiben übrig. Projektteams verlieren ihre kreativen Köpfe. Selbst Routineentscheidungen werden langsamer getroffen, da alle auf das „vermeintliche Ende“ der Reorganisation und auf neue Direktiven warten. Die Produktivität sinkt, obwohl sie durch die Reorganisations-maßnahmen gesteigert werden soll, da die Zugpferde fehlen. Das Unternehmen erleidet zudem einen weiteren Image-Verlust auf dem externen Stellenmarkt. In Analogie zur Tierwelt: Das Territorium wird unattraktiv, der Reproduktionsfaktor zur Arterhaltung sinkt.


Anders die Flexibilitäts-Voraussetzungen der Wolfsrudel-Organisation: Gerät sie in größere Umweltturbulenzen, kann sie rasch und sensibel auf neue Entwicklungen reagieren und sich den neuen Gegebenheiten anpassen. Bei sich stark wandelnden Umweltbe-dingungen zeigt sich der Vorteil dieses Organisationstyps. Besitzt sie jedoch eine stabile Umwelt, wird sehr viel Eigendynamik aufgewandt, die die Markt­bedingungen des Unternehmens gar nicht erfordern. Dadurch werden Ressourcen verpulvert, die anderweitig besser genutzt werden könnten.

 

Wie entstehen diese beiden Sichtweisen von Unternehmen? Aus verhaltens­wissenschaftlicher Sicht lassen sich neben anderen insbesondere drei weitere Perspektiven identifizieren. Die Form des Personalauswahl und -entwicklung sowie – übergeordnet – die interne Kultur einer Organisation.

3. Perspektive: Unternehmenskultur

Die Kultur einer Organisation entwickelt sich in deren Gründungsprozess. Sie wird weitergeführt und verselbständigt sich mit der Zeit. Bei der Gründung der Unter­nehmung bestehen in den Köpfen der Urväter heterogene Ansichten darüber, wie die Organisation zu funktionieren hat, welchen Sinn sie erfüllen muss, auf welchem Weg die Erfolge zu erzielen sind. Die zu diesem Zeitpunkt erfolgreichen Vorstellungen setzen sich durch. Wächst die Unternehmung, verfestigen sich die Strukturen, obwohl die Umweltbedingungen nicht mehr in allem der Gründerzeit entsprechen. Nicht nur diejenigen, die von Anfang an dabei waren, sind auf diese Strukturen und Wertvor-stellungen eingeschworen. Auch neue Mitarbeiter erhalten diese eingeimpft, sei es durch formale Regelungen, informale Übungen, Rituale oder durch Geschich­ten bzw. Mythen der Organisation. In diesen Mythen werden Heldentaten von Grün­dern oder früheren Mitarbeitern verherrlicht. Sie dienen als Vorbild. Insbesondere inhabergeführte Mittelstandsunternehmen sind manchmal in diesem „Aktionskreis der Lemminge“ gefangen. Hier liegen auch Regeln begründet, die die Rigidität sowohl von Werten als auch Meinungen bestimmen.


Es gibt demgegenüber Unternehmen – in unserem Sinne Wolfsrudel-Organisationen – in denen eine abweichende Meinung grundsätzlich erwünscht ist und auch belohnt wird. Die fördert den produktiven und kreativen Konflikt.


In Lemming-Unternehmen werden abweichende Meinungen schon im Vorfeld negativ sanktioniert, die Informationswege sind reglementiert. Widerspruch wird als Majestätsbeleidigung angesehen. Dort gilt noch der Satz des klassischen Altertums: „Der Überbringer einer schlechten Nachricht wird erst einmal geköpft.“ Mitarbeiter, die sich für das Firmenwohl gern köpfen lassen, sind jedoch dünn gesät, so dass in diesen Organisationen Kritik und schlechte Nachrichten gar nicht erst überbracht werden.


In Wolfsrudel-Unternehmen mit hoher Informationstransparenz, in denen der Platzhirsch ständig konstruktiv herausgefordert wird, werden konträre Ansichten natürlich wesentlich häufiger geäußert, diskutiert und in Maßnahmen umgesetzt.

4. Perspektive: Personalauswahl

Die Personalauswahl unterstützt die vorzufindende Kultur einer Unternehmung und vice versa. In der Lemming-Organisation werden z. B. die zukünftigen Arbeitnehmer aus den Bewerbern durch ein Raster unter dem dominierenden Aspekt ausgewählt: Passt dieser Mann – bzw. diese Frau – in unsere Organisation, frei nach dem Stichwort: „Gleich und Gleich gesellt sich gern“. Wer jedoch ausschließlich in die Fußstapfen von anderen tritt, wird keine neuen Wege finden. Es findet eine Addition bekannter Verhaltensweisen statt. Die Angriffs- und Verteidigungsstärke bei Territorialkämpfen mit Mitbewerbern lässt dementsprechend nur ganz bestimmte Handlungsweisen zu.


Die Wolfsrudel-Organisation legt Wert darauf, dass auch verschiedene Vorbildungen, unterschiedliche Interessen und divergierende Werthaltungen einbezogen werden. Stärken- und Schwächenrelationen werden akzeptiert. Individuelle Profile werden zu einem synergetischen Optimum komplettiert. Es entsteht somit eine komplementäre Wirkungskette. Territorialkämpfe werden reduziert durch die Akzeptanz von Anders­artigkeit. Die Angriffs- und Verteidigungsstärke solcher Art Populationen steigen auch durch die komplementäre Grundstruktur. Verschiedene Handlungsweisen erhöhen die Reaktionsbreite und damit wiederum die Flexibilität.


Glücklicherweise gibt es Personalverantwortliche in fortschrittlichen Unternehmen, die bewusst auf kritische Kandidaten zurückgreifen, da diese genügend Engagement und neue Ideen mitbringen, um ein produktives und kreatives „Chaos“ in die Orga­nisation zu bringen. Aber auch in diesen Fällen wird natürlich – zeitlich verzögert – ein Anpassungseffekt erhofft. Man geht von der Annahme aus, dass die neuen Ideen und die in die Organisation herein getragenen Konflikte für den Gesamterfolg des Unternehmens fruchtbar sein werden und sich diese Mitarbeiter letztlich den Unter­nehmenszielen unterordnen. Der Gefahr einer Demotivation oder gar eines Burnout bei solcherart produktiven Mitarbeitern wird durch entsprechende Personal-Instrumente (Freizeitregelungen, Motivationstöpfe, Zielvereinbarungen, Entschei­dungsautonomie, etc.) entgegengesteuert. Letztlich werden hierdurch neue Ideen und Entwicklungen rasch aufgegriffen und in die Unternehmung und deren Arbeitssystem überführt.

5. Perspektive: Personalentwicklung

Die Personalentwicklung der Lemming-Organisation ist eher reaktiv. Entsprechende Aktivitäten erfolgen erst dann, wenn das Wasser bis zum Hals steht. Dadurch wird die unmittelbare operationale und sofortige Umsetzung von Maßnahmen zwingend notwendig. Konsequenterweise stehen anpassungsorientierte Fachtrainings im Vordergrund. Aktuelle Die Unternehmenssituation bestimmt die Bildungsinhalte. Individuelle Auswahlmöglichkeiten für die Mitarbeiter fehlen. Sie werden zu Qualifizierungsmaßnahmen (zwangs-)delegiert. Personalentwicklung on-the-job kann kaum realisiert werden, da die Mitarbeiter nicht in ausreichendem Maße zeitlich und motivational flexibel sind. Darüber hinaus torpedieren oftmals die Führungskräfte solche Entwicklungsprozesse durch ihr erlerntes Verhaltens- und Verfahrens­reportoire, z. B. aufgrund mangelnder Erfahrung in der Rolle als Personalentwickler vor Ort  und zu geringe Delegation von Aufgaben, Verantwortung und Kompetenz an ihre Mitarbeiter.


Die Personalentwicklung der Wolfsrudel-Organisation ist mehr nach zukünftigen Chancen und Risiken ausgelegt. Trainings zu Management-, Persönlichkeits- und Sozialkompetenz stehen gleichgewichtig neben Maßnahmen zur Erhaltung der Fachkompetenz. Mitarbeiter können ihre Qualifikationswege mitbestimmen. Sie werden im Rahmen von Sonderaufgaben, Aufgabenvariationen und durch Delegation von ihren Führungskräften auf künftige Aufgaben on-the-job weiterqualifiziert. Die persönliche Entwicklung des Mitarbeiters und die Entwicklung des Unternehmens ist gleichgewichtig.


Die Karriereplanung ist in der Lemming-Organisation strengstens geregelt. Die generative Lösung – Alter und Erfahrung als Entwicklungsmerkmale – ist noch weit verbreitet. In der Wolfsrudel-Organisation hingegen sind rasche Wandlungen mög­lich. Bereichsübergreifende Jobrotationen sind an der Tagesordnung, um existente Revierkämpfe innerhalb der Organisation aufzulösen bzw. nicht entstehen zu lassen. Kaminaufstiege, d. h. der Hierarchiesprung nur innerhalb eines bestimmten Fach­bereiches, sind kaum möglich. Die einzelnen Mitarbeiter müssen sich auf neue Führungskräfte, die Führungskräfte auf neue Mitarbeiter einstellen. Auch in der Kollegenschaft tauchen öfter neue Gesichter auf. Mitunter wird dies mit dem Begriff der „ad-hoc-kratie“ bezeichnet und die Führungskraft als „change-agent“ betrachtet. Eine solche Führungskraft wird von seinen Mitarbeitern als „Motivationskraft“ und nicht wie in der Lemming-Organisation als „Interventionskraft“ wahrgenommen.

6. Fazit

Die Wolfsrudel-Organisation ist immer bereit zu neuen Territorialkämpfen mit Mitbewerbern, wogegen die Lemming-Organisation sich in vermeintlichen Gattern fühlt und bei einem Ausbruch in ihrer Phantasie nur die Klippe sieht, wo sie gemeinschaftlich enden würden. Oftmals sind ihre Herdenführer über die Jahre hinweg so träge geworden, dass ein Fortbewegen allein schon physische Probleme bedingen würde.


Welcher Organisationstyp letztlich erfolgreicher sein wird, hängt von den externen und internen Anforderungen an die Unternehmung ab. Ob die Verhaltensweisen einer Wolfsrudel-Organisation im einzelnen Fall besser sind, muss mit einem Fragezeichen versehen werden. Kreative Lösungen haben in Organisationen mit einem heterogenen Mitarbeiterstamm die größeren Chancen, entdeckt zu werden. Problemfelder werden hier aus verschiedenen Gesichtspunkten mit unterschied­lichem Vorwissen betrachtet. Dagegen besteht in der Lemming-Organisation die Gefahr geistiger Inzucht, die Probleme werden immer aus ähnlichen Perspektiven beleuchtet, und falls aus diesem Blickwinkel keine Lösung in Sicht ist, als unlösbar ad acta gelegt. Potenzielle Marktchancen werden vertan.


Die Anzahl der Ideen und ihre kreativen Ausprägungen werden in der Wolfsrudel-Organisation Umfangreicher sein. Diese kreativen Vorschläge umzusetzen, bedarf es jedoch einer gewissen Disziplin, um die Vor- und Nachteile zu prüfen. Hier muss die Wolfsrudel-Organisation reagieren wie ein Wolfsrudel in der Natur. Nach dem Entdecken der Beute müssen Mechanismen, z. B. Kommunikationswege und Partizipationsmethoden entwickelt werden, die bewirken, dass sich alle Mitglieder der Organisation auf das Erreichen eines Ziels einstellen und es dann auch konsequent angehen. Wenn man dem Beispiel aus der Natur folgt, so zeigt die Analogie, dass sobald die Beute (Kunde, Wettbewerber, etc.) gewittert ist, das Wolfsrudel unter Führung des Leittiers das gesicherte Wild in koordiniertem Verhalten angreift und „erlegt“.


Die Organisation darf also in einem solchen Fall, wenn eine Chance in Sicht ist, nicht wie im oben zitierten Affenstall reagieren, sondern muss die Disziplin des Wolfs­rudels in der Schlussphase seiner Jagd aufbringen. Dann wird sie auch erfolgreich mit neuen Gegebenheiten fertig. In dieser Phase können wiederum viele Wölfe von den stringenten und traditionellen Handlungsweisen der Lemminge lernen.


Erfolgreiche Verhaltens- und Verfahrensweisen in Entscheidungssituationen – sowohl in der Tier- als auch in der Arbeitswelt sind gekennzeichnet durch systemisches und situationsgerechtes agieren. So wie schon Goethe sinngemäß formulierte: „Gleichheit bringt Ruhe, der Widerspruch ist es, der produktiv macht“ sind in den hier beschriebenen Perspektiven die entspannenden und anspannenden Handlungsweisen sowohl von Wölfen als auch von Lemmingen situativ zu erkennen und situationsgerecht umzusetzen.



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